Mittwoch, 29. Oktober 2014

Historischer Exkurs

Seit gestern abend folgt ein Gewitter dem andern, es regnet, und wir haben Zeit, das Gesehene zu verarbeiten. In den bisherigen Uruguay-Beiträgen vermitteln wir ein äusserst positives Bild des Kleinstaates - Stichworte: fortschrittliche Gesetzgebung, entspannte Grundatmosphäre. Um der Romantisierung vorzubeugen, bedarf es einiger Ergänzungen. Zuerst über einen Kurzabriss der Geschichte. Darin ist offiziell kaum je die Rede vom Kontext der Besiedelung durch die Europäer. Zu diesem gehört die weitgehende Vernichtung der indigenen Bevölkerung Uruguays in der Zeit nach 1800. 
Tatsache ist, dass es in U. als einzigem Land Südamerikas keine indigene Bevölkerung mehr gibt. Seit 1850 gilt sie als ausgestorben. Es fand ein eigentlicher Genozid statt. - Gestern im Supermarkt kamen wir ins Gespräch mit einem der privaten Sicherheitsleute. Er outete sich als Nachkomme italienischer Einwanderer mit portugiesischen und indigenen Wurzeln und machte uns auf das Massaker von 1831 an den Charrúa-Indianern aufmerksam, bei dem es nur wenige Überlebende gab. Vier von ihnen, darunter der Häuptling und seine Frau, wurden 1833 nach Paris gebracht und dort in Zirkussen ausgestellt. (Das ist keine Schauergeschichte; es ist historisch verbürgt). Der junge Mann war, während er erzählte, sichtlich aufgewühlt. 
Das Land war wegen seiner strategisch wichtigen Lage bis rund 1900 ein Spielball der Interessen. 1825 wurde es zwar mit Hilfe der Engländer als Staat von Argentinien und Brasilien anerkannt, doch dann begannen endlose Bürgerkriege. Am Rio de la Plata kämpfte jeder gegen jeden. Während des Guerra Grande (Handelsbürgertum gegen Landoligarchie) 1843 bis 1852 floh praktisch die ganze Landbevölkerung nach Argentinien.

Bildlegende: Die Skulptur "El Entrevero / der Wirrwarr" von José Bellini symbolisiert vielleicht die Geschichte Am Río de la Plata im 19. Jahrhundert: Jeder kämpft gegen jeden.

1853 zählte Uruguay noch 130 000 Einwohner. Trotz der weiterhin instabilen politischen Lage (erst 1870 kam es zur Befriedung), entstand eine eigentliche Einwanderungswelle aus Italien und Spanien.








1868 waren 68% der gesamten Bevölkerung neu Eingewanderte. Die Infrastruktur wurde rasant entwickelt: 1857 erste Bank, 1860 Kanalisation in Montevideo, 1866 erster Telegraph und Eisenbahnlinien ins Landesinnere, 1870 erste Gewerkschaft. Die Einwanderer brachten auch neue Viehzuchtmethoden ins Land. Nun konnte das landwirtschaftliche Potential des Landes wirklich genutzt werden. 1905 folgte dann der Paradigmenwechsel: Anstatt Lebendvieh wurde zum ersten Mal tiefgefrorenes Fleisch nach Europa verschifft. - 1880 hatte Uruguay wieder 500 000 Einwohner, 1910 über eine Million, 30% davon lebten damals schon in Montevideo.


Vor diesem historischen Hintergrund kann man die Bedeutung der Fussballsiege z.B. an den Weltmeisterschaften 1930 und 1950 erst wirklich verstehen (1930 Sieg gegen Argentinien 4:2 in Montevideo, 1950 in Rio de Janeiro gegen Brasilien 2:1). 



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